Hessliche Zustände

Hessen. Wir haben ein Problem.

Der rassistische Terroranschlag in Hanau 2020 [1]der Mord an Walter Lübcke 2019 [2]das Attentat in Wächtersbach 2019 [3], der Angriff auf eine DGB-Kundgebung in Hanau 2018 [4]der Brandanschlag in Dautphetal 2008 [5]Mordversuche in Kassel 2003 [6] und 2001 [7]Morde in Wiesbaden 2002 [8] und Fulda 2001 [9], eine ganze Serie von gegen Geflüchtete gerichtete Brandanschlägen in den 1992-1998er Jahren, davon allein 1993 sieben Anschläge in Borken, Immenhausen, Taunusstein, Kirchheim, Friedrichsdorf, Erzhausen, Bad Camberg [10].

Hessen.

Das ist ein westdeutsches Bundesland ohne schlechten Ruf, mit stabiler wirtschaftlicher Lage und geringer durchschnittlicher Arbeitslosigkeit, mit dem internationalen Verkehrsknotenpunkt und Finanzplatz Frankfurt, der auch als Geburtsstadt der deutschen Demokratie gilt. Wir reden über ein Bundesland mit 6 Millionen Einwohner*innen, von denen gut ein Drittel einen migrantischen oder postmigrantischen Background haben, in dem aber auch in fast jeder Stadt und Kommune kontinuierliche Naziaktivitäten dokumentiert sind.
 
Die Geschichte rechter und rassistischer Auswüchse und Gewalt in Hessen ließe sich über die Jahre und Jahrzehnte lange zurück erzählen und ebenso stetig aktualisieren. Vom alltäglichen Rassismus auf der Straße über Nazis in Polizei und Behörden bis hin zu rechtem Terror wie in Hanau: Gerade durch die in den letzten Jahren entstandenen bundesdeutschen Öffentlichkeit für diese Skandale ist Hessen zum Brennglas deutscher Verhältnisse geworden.
 
Was ist los in Hessen? Wie kann es sein, dass sich in Hessen in all diesen Jahren Nazistrukturen so ungestört entwickeln konnten? Trotz des kontinuierlichen und vielseitigen Bemühens von Betroffenen, Hinterbliebenen und politischen Initiativen bleiben Konsequenzen aus Skandalen und der unendlichen Zahl an Einzelfällen aus. In Hessen wird weiter weggeschaut, unterlassen, verharmlost und zum Teil sogar durch den Staat auf Umwegen finanziert.
 
Über die Jahre des Nicht-Handelns, des konsequenzlosen Gewährens und der aktiven Unterstützung hat sich etwas zusammengebraut, was es auf allen Ebenen aufzulösen gilt: die hesslichen Zustände.
 
Hessliche Zustände beschreiben eine seit Jahrzehnten wiederkehrende Relativierung von rechter Gewalt und Terror seitens Politik und der Behörden. Gemeint sind Verhältnisse, in denen in Nordhessen eine seit 30 Jahren nicht enttarnte rechtsterroristische Zelle operieren kann, die zum NSU-Komplex gehört und das Leben mindestens von zwei Menschen bedroht sowie die Leben von Halit Yozgat und Walter Lübcke genommen hat [11]
Das meint auch Zustände, in denen die dazugehörigen polizeilichen Ermittlungen, insbesondere gegen den rechts umtriebigen hessischen „Verfassungsschützer“ Andreas Temme, auf Geheiß des Ministerpräsidenten Volker Bouffier abgebrochen wurden, und in denen sich Temme trotz aller Anschuldigungen immer noch im Staatsdienst befindet [12]. Das meint Zustände, innerhalb derer Behörden nicht nur wegschauen, sondern vielfach selbst verstrickt waren und sind. Das meint auch Zustände, in denen Ermittlungsakten entweder zufällig geschreddert [13] oder planmäßig durch den hessischen Landtag für 30 Jahre vor jeglicher weiterer Auseinandersetzung weggesperrt werden [14].
Hessliche Zustände bedeuten auch einen jahrzehntelangen Schulterschluss von Bürger*innen mit rechtsextremen Burschenschaften und die Billigung sowie Ermöglichung der überregionalen Formierung neu-rechter Ideologieproduktion: von Einrichtungen wie dem ThuleSeminar in Bad Wildungen [15], dem Hof Knüllwald, dem Coburger Convent mit dem Hessen-Preußen Haus in Marburg [16] bis hin zu dem in Bad Vilbel gegründeten Institut für Staatspolitik [17]
Gemeint sind auch Zustände, in denen die Spur der Drohbriefe des NSU 2.0 unter anderem in ein mittelhessisches Dorf namens Kirtorf führt [18], das bereits seit knapp 20 Jahren als Treffpunkt von Blood & Honour und Rechtsrock bekannt ist. Hier wurde wie an vielen anderen Orten in Hessen nie gegen rechte Strukturen vorgegangen.
Nicht zuletzt sind es Zustände, in dem vom „Verfassungsschutz“ doppelt so viele Personen-Akten von Nazis gelöscht wurden, wie offiziell von derselben Institution in Hessen registriert waren [19]
 
Hessliche Zustände – das meint sowohl die Rückendeckung, als auch die aktive Unterstützung, die vom politischen Personal des Bundeslandes über Jahrzehnte ausgegangen ist. Zustände, in denen rechtspopulistische Positionen nicht nur geduldet, sondern auch hoffähig gemacht, protegiert und immer erst dann gedeckelt wurden, wenn sich ein öffentlicher Skandal andeutete.
Hessliche Zustände bei der CDU, die ihre Nähe zur extremen Rechten nicht scheut, sondern mit dieser kokettiert und kontinuierlich rassistische Hetze und Stimmungsmache betreibt, um die eigene Wähler*innenschaft zu vergrößern [20]. Eine hessische CDU, in der Alexander Gauland vier Jahre Leiter der hessischen Staatskanzlei war. Zustände, in denen Alfred Dregger [21] mit seinen geschichtsrevisionistischen, hetzenden und antisemitischen Positionen 14 Jahre lang Oberbürgermeister von Fulda sein konnte, bis er durch den ebenso rechtslastigen Martin Hohmann ersetzt wurde. In der Walter Wallmann trotz und wegen einer rassistischen Kampagne [22] in den 1980er Jahren nicht nur die Wahl zum OB gewann, sondern auch hessischer Ministerpräsident wurde. 
Was ist von einer Partei zu halten, in der Roland Koch wegen und mit seinen einschneidenden rechtspopulistischen, dezidiert rassistischen Positionen und seiner Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zwölf Jahre Vorsitzender und fast ebenso lange zum Ministerpräsidenten dieses Bundeslandes wurde? Was ist vom politischen Personal der hessischen CDU zu halten, die in den letzten 20 Jahren ein Verständnis von Sicherheit durchgesetzt hat, welches auf Kontrolle und den Ausbau skandalumwobener Sicherheitsapparate gesetzt hat, anstelle auf demokratische Teilhabe oder Partizipation? Einer CDU, in der es kaum öffentliche Bestürzung über den Mord an ihrem Parteikollegen Walter Lübcke gab und vor dessen Ermordung das damalige CDU-Mitglied Erika Steinbach (heute AfD) gegen ihn hetzte [23]. Wo CDUAbgeordnete, die zuvor Mitglieder im NSUUntersuchungsausschuss des Landtags gewesen waren, Hanau als den ersten rechtsextremen Terroranschlag bezeichnen [24]. Wo Abgeordnete von CDU und FDP im Untersuchungsausschuss zum Attentat von Hanau lieber Zeitung lesen, als den Berichten der Angehörigen und Überlebenden zu folgen.
Hessliche Zustände meint aber auch die hessischen Grünen, die es mit dieser CDU immer wieder in Koalitionen ausgehalten haben und denen es wichtiger war den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden, als für Aufklärung zu den staatlichen Verstrickungen in wie den NSUMorden zu sorgen. Beispielhaft zeigt sich das an der Entscheidung, die Freigabe der hessischen NSU-Akten zu verweigern.
 
Die hesslichen Zustände meinen die Billigung rechter Umtriebe in staatlichen Sicherheitsorganen. Sie meinen Zustände, in denen der Verfassungsschutz die Pläne von Waffendepots und Todeslisten kennt und zum Urteil gelangt, dass von diesen keine Gefahr ausgehe. Zustände, in denen Franco Albrecht, wohnhaft in Offenbach, trotz seiner offen rechtsextremen Einstellungen in der Bundeswehr befördert wurde und problemlos am Aufbau eines rechtes Netzwerk in Polizei, MAD und Bundeswehr, das auf den Zusammenbruch der staatlichen Grundordnung hinwirkt, beteiligt sein konnte [25].
Zustände, in denen die für den Tod von Günter Sare verantwortlichen Polizeibeamten von jeglicher Schuld freigesprochen [26] und im Fall des durch mutwillige Körperverletzung der Beamten getöteten sudanesischen Geflüchteten Aamir Ageep nur geringfügig verurteilt wurde [27]. Zustände, in denen der Einsatz von SEK Beamten in Hanau, die in Nazi-Chatgruppen involviert sind, vom Polizeipräsidenten völlig entproblematisiert werden.
Hessliche Zustände meint auch und im Besonderen die Selbstsicherheit der Täter, die zum Ausdruck kommt, wenn wiederholt private Daten von Polizeicomputern abgefragt und Drohbriefe mit NSU 2.0 unterschrieben und versendet werden, obwohl bereits Ermittlungen laufen [28]. Das sind Zustände, in denen Täter keine Konsequenzen fürchten müssen. Das bedeutet auch, dass Waffenscheine weiterhin problemlos auch an einschlägige Rechte ausgestellt werden oder hunderte Waffen konsequenzenlos aus der Asservatenkammer des Frankfurter Polizeipräsidiums entwendet werden können. 
Hessliche Zustände zeigen sich auch daran, dass sich ein Skandal in Polizei und Verfassungsschutz an den nächsten reihen kann, dass dies aber weder zum Rücktritt von Innenminister Beuth führt, noch zur konsequenten Nachverfolgung und Sanktionierung. Auch die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle und selbst eine Studie über Einstellungsmuster und Rassismus in der hessischen Polizei bleibt aus [29].
 
Hessliche Zustände meint die Unfähigkeit oder Mutwilligkeit, juristisch gegen rechte Strukturen, Gewalt und deren Popularisierung vorzugehen. Gemeint sind Zustände, in denen sich hessische Gemeinden gegen rechte Propaganda und Volksverhetzung auf NPDPlakaten zur Europawahl 2019 wehren, dass das Verwaltungsgericht in Gießen diese Gegenwehr aber mit der Begründung torpediert, dass es sich bei den rassistischen Parolen doch um Tatsachenbehauptungen handeln würde [30].
Zustände, in denen selbiger Richter von Kolleg*innen und der Institution als unbefangen eingestuft wurde und u.a. über Asylanträge von Geflüchteten so lange weiter entscheiden konnte, bis eine außerhessische Instanz, nämlich das Bundesverfassungsgericht, endlich dessen rechte Voreingenommenheit feststellte [31].
Zustände, unter denen die Quote von abgeschlossenen Gerichtsverfahren gegen rechte Gewalt und Morddrohungen seit 2016 in Hessen bei unter 10 % liegt [32]. Denn es gibt nicht, was es nicht geben darf.
 
Hessliche Zustände meinen den rassistischen und antisemitischen Normalzustand auf dem Amt, im Klassenzimmer oder auf der Straße, in dem jüdische Einrichtungen in dutzenden von hessichen Orten und Ortschaften regelmäßig durch Schmierereien und Vandalismus geschändet werden [33].
Zustände, in denen die Polizei von einem relevanten Teil der Bevölkerung nicht gerufen wird, weil ihnen nicht geholfen wird, sondern sie selbst zum Problem gemacht werden. Zustände, innerhalb derer selbst nach einem rechtsextremen Terroranschlag wie in Hanau nicht auf racial profiling Kontrollen und „Gefährderansprachen“ verzichtet wird, sondern diese im Gegenteil sogar ausgeweitet werden.
Zustände, in denen Bürger*innen nur so lange als solche betrachtet werden, wie sie sich als ordnungshörig erweisen und verhalten – und ansonsten umstandslos als Störer*innen behandelt werden. Gemeint sind Zustände, in denen die Polizei bei Blockupy oder zum wiederholten Male bei den unzähligen Anti-Nazi-Protesten oder SeebrückeVersammlungen grundgesetzliche Versammlungsrechte willkürlich einschränkt hat, während Nazis oder Coronaleugner*innen gegen alle Widerstände Platz gemacht wird. Es meint auch, dass die Rechtswidrigkeit dessen im Nachhinein gerichtlich verurteilt wird und dennoch permanente Realität auf der Straße bleibt. 
 
Hessliche Zustände meinen die Bagatellisierung rechter Übergriffe und Gewalt, die Nicht-Aufklärung geschweige denn Sanktionierung von rechten Umtrieben in der Polizei, dem hessischen Verfassungsschutz, in hessischen Gerichten, an hessischen Schulen und Hochschulen. Hessliche Zustände: damit ist gemeint, dass nach all dem in Hessen weiterhin von tragischen und unvorhersehbaren Einzelfällen die Rede ist, obwohl unzählige zivilgesellschaftliche Akteure und Journalist*innen seit Jahren die rechten Verbindungen und Netzwerke recherchieren und aufdecken. Das alle zeigt, dass WIR es sind, die recherchieren müssen, weil der Staat untätig bleibt. Die Diagnose Hessliche Zustände meint den Nährboden, der bereitet wird, und der damit ein Signal an eine bedenkenlose Fortsetzung dessen sendet: Nichts wird passieren, wenn wir es nicht tun.
 
Das alles sind Hessliche Zustände, die es zu beenden und aufzulösen gilt. Politisch, gesellschaftlich, in den Parlamenten und in den Behörden, auf der Straße und in der Nachbarschaft muss all das jetzt endlich radikal bekämpft werden.
 

Quellennachweise